Seit 8 Wochen tue ich nichts. Das ist gelogen. Ich tue viel. Viel zu viel. Ich habe mich in der Geschäftigkeit verrannt, um der wichtigsten Frage meines Daseins aus dem Weg zu gehen.
Ist die Krise vorbei? Nicht ganz. Aber ein bisschen. Wir atmen langsam auf. Doch was bringt nun eigentlich die Zeit nach Corona?
Was kommt danach? Oder besser: Was war das eigentlich davor?
Viele wünschen sich ihr altes Leben zurück. Will ich das auch? Ich glaube kaum. Ich habe ja zuvor schon dieselben Fehler gemacht, sie waren nur weniger offensichtlich.
Nach 7 oder 8 Wochen (Haben wir nicht längst aufgehört zu zählen?) hat sich ein eigenartiger Flow eingestellt. Es ist egal, wann ich aus dem Bett steige. Es ist egal, wann ich die Turbinen von meinem Homeoffice anwerfe. Und eigentlich war es vor Corona auch schon egal, denn was das Early Bird nicht schafft, muss eben die Nachteule erledigen. Es ist irgendwie ok, jeden Tag dieselbe Jogginghose zu tragen. Es macht mir nichts aus, dass ich erst in zweieinhalb Wochen einen Friseurtermin bekommen habe. Ich fange gerade erst an, Freundschaft mit meinen grauen Haaren zu schließen.
Ich könnte jetzt wieder shoppen. Ich brauche dringend eine Jacke für den „Übergang“, weil sich nicht nur die Zeiten, sondern sich auch das Wetter ständig ändert. Und Schuhe. Echt jetzt. Aber egal, ich trage einfach meine Trailrunning-Shoes (die ich eigentlich zum Start einer nie begonnenen Laufsaison gekauft habe) zu den omnipräsenten Yoga-Leggings – und ich gehe einfach nicht raus, sollte ich eine Jacke brauchen.
Ich habe eine undefinierbare Abneigung wieder unter die Leute zu gehen. Oder auch einfach keine Lust. Ich weiß es nicht. Menschenschlangen vor Baumärkten und Möbelhäusern sind mir suspekt. Und mir ist nicht nach Shopping mit Maske im Gesicht. Das fühlt sich irgendwie verkehrt an, sofern es nicht um den Kauf von Grundnahrungsmitteln geht.
Ich bin noch gar nicht richtig im Lockdown angekommen, da ist er auch schon wieder vorbei. Gerade erst habe ich mein Wohnzimmer mit allem Pipapo zum adretten Yogastudio umgebaut. Wahlweise auch zum Fitness-Homestudio, wenn ich beschließe, mich zur Abwechslung bei spaßigen Online-Workouts auszupowern. Rundherum alles ziemlich unaufgeräumt. Weil es eh niemand sieht. Selbst ich nicht mehr. Die Wäsche. Das Geschirr. Auch schon egal.
Fernweh? Abgesagt.
Anfang des Jahres hat man mich noch gefragt: Na, was sind deine nächsten Reisepläne? Der Witz dabei: Ich hatte keine. Ich, die immer unterwegs ist. Als hätte ich gewusst, was kommt. Ich hatte kein Bedürfnis, in die Ferne zu schweifen und kurz vor Corona sogar eine Presseeinladung auf die Malediven verschmäht. Ja ICH, die passionierte Vielreisende! Malediven, Seychellen, Mauritius. Das Trio meiner heimlichen Manifestation hatte sich schon längst erfüllt. Und Europa ist auch schön. Und was ist eigentlich so schlimm daran, eine Zeit lang überhaupt nicht zu verreisen? Woher kommt eigentlich die Dekadenz, andere Orte mit der eigenen Anwesenheit beglücken zu müssen? Wozu stundenlang im Flieger sitzen, wenn das Paradies doch schon vor der eigenen Haustüre liegt?
Was nach einer ganz passablen, resilienten Ausgangssituation klingt, bekam im April eine unbemerkte Wendung.
Was ist passiert? Tja…ich habe mich im übertriebenen Corona-Aktivismus verheddert.
Ja, ich hätte mich – angesichts geringer Fixkosten und der Tatsache, dass die Jogginghose-Homeoffice-Kombi sowieso mein Alltag ist – einfach zurücklehnen können. Hätte ich. Habe ich aber nicht. Weil das noch nie meine Stärke war.
Ich habe kein Problem damit, mich tagelang alleine in den eigenen 4 Wänden zu verbarrikadieren. Außer man verlangt von mir, dabei TATENLOS zu bleiben.
NICHTS geht nicht. Denn es gibt so viel zu tun. Es gibt IMMER IRGENDETWAS zu tun.
E-Mailboxen aufräumen, Buchhaltung machen, Fotos auf externe Festplatten speichern. Überhaupt könnte ich ein ganzes Jahr lang mit meinem Macbook auf einer einsamen Insel verbringen, um mich nach und nach von Chaos befreien, das sich in den einzelnen Ordnern angehäuft hat.
Man kann auch Fenster putzen, Schubladen aufräumen, Kuchen backen und Bilder malen. Man kann lose Knöpfe wieder annähen, die Zimmerpflanze umtopfen und neue Filzstücke unter die Stühle kleben.
Man kann Bücher zu Ende lesen, man kann sich weiterbilden, Online-Workshops machen, Podcasts hören und all die spannenden Newsletter, die ständig hereinpurzeln, endlich auch mal lesen. Man kann die schönen Zitate, über die man jemals gestolpert ist, in ein hübsches Büchlein eintragen.
Eine Pause? Jetzt? Muss das sein?
Ich weiß, dass hinter all dem mein permanenter Versuch steckt, alles zu kontrollieren. Ich muss die Dinge eben sortieren, einordnen oder feierlich loslassen, um nicht von meinem inneren Chaos und meiner eigenwilligen Kreativität überrollt zu werden.
Ja, man kann auch Selfcare bis zum Exzess betreiben. Und wie man das kann! Zitronenwasser trinken, Yoga üben, meditieren und bewusst atmen. Ein Vollbad nehmen, ein Mond-Ritual machen, Tarot-Karten ziehen, drei Dinge für die man dankbar ist, täglich in einem Journal aufschreiben.
Man kann so viele Dinge tun, für die man sonst nie Zeit hat. Und man kann sich wundern, wie schnell so ein Quarantäne-Tag vorbeigehen kann. Und wenn man so ist wie ich, kann man sich auch noch darüber ärgern. Das geht tatsächlich. Und wie das geht! Man hätte die Stunden zwischen Aufstehen und Schlafengehen ja schließlich noch besser | effektiver | produktiver nützen können.
So etwas wie Corona kommt so schnell nicht wieder. Das muss man nützen. Wenn nicht jetzt, wann dann? Verrückte Gedanken. Ich weiß.
Es war erst Wochen später (ok, um ehrlich zu sein, war es sogar erst heute), dass mir folgender Gedanke in den Sinn kam: Was passiert eigentlich, wenn ich die Angelegenheit X heute nicht erledige?
Was wäre passiert, wenn ich die Aquarellfarben nicht aus der untersten Schublade geholt hätte, um ein Mondbild zu malen?
Wenn ich dieses Dinkelkuchenrezept nicht ausprobiert hätte?
Wenn ich die Yogasession einfach vom Plan gestrichen hätte?
Wenn ich das lästige To-Do auf meiner Liste auf morgen oder nirgendwann verschoben hätte?
Es wäre eine Lücke entstanden. Eine unendliche Weite hätte sich aufgetan. Ein mysteriöses schwarzes Loch.
Lücken sind nicht gut, sagt das Ego. Komm‘ die machen wir ganz schnell wieder zu! Irgendwas wird sich schon finden, sagt das Ego, und kramt eilig im Archiv:
Da ist doch dieser französische Film, den du schon immer sehen wolltest?
Und hast du eigentlich schon deine Playlist der Woche auf Spotify gehört?
Und da wäre noch die Podcastfolge XY! Die ist bestimmt spannend!
Sag‘ mal, hast du dich schon um den Fleck gekümmert, der beim Saftpressen auf deinem T-Shirt gelandet ist..naaa?
Und ganz ehrlich: Meinst du nicht, dass der Kühlschrank geputzt und das Bett frisch überzogen werden sollte? Seit wann bist du so nachlässig?
Und wenn du wirklich ernsthaft an deinem Bikini-Body arbeiten möchtest, dann würde ich das heutige Workout auf keinen Fall auslassen. Also ran an die Geräte, worauf wartest du noch?
Die Frage nach dem Sinn nach Corona
Was ist, wenn ich bei all dem Machen, Tun und Rennen – das sich manchmal sogar geschickt als Vergnügen tarnt – das Wesentliche gar nicht sehe? Weil ich es vielleicht gar nicht sehen will. Denn: Was ist das Wesentliche überhaupt? Vermutlich kaum mehr als die eigene Endlichkeit.
Sind Exzess und Askese vielleicht von ein und derselben Angst getrieben. Die vor dem Tod, der Endlichkeit?
Susanne Kaloff
So wird die Frage nach dem Sinn nach Corona noch brisanter als davor. Das ist das Souvenir, das uns diese Krise hinterlässt, egal, ob wir es haben wollen oder nicht.
Wenn erwünschte und unerwünschte Ablenkungen Schicht für Schicht von uns abfallen, bleibt nur mehr der rohe Kern übrig. Das nackte Ich, das sich der Frage nicht entziehen kann: Wozu bin ich eigentlich hier?
Oh ja, wir sind absolut meisterhaft darin, jede noch so kleine Lücke zu füllen! Oder bin es nur ich, die auf fabelhafte Weise jede aufkeimende Leere mit Entertainment, Geschäftigkeit & Selbstoptimierung zukleistern kann? Sag‘ mir bitte, dass das nicht wahr ist!
Unsere inszenierten Pausen sind keine wirklich erlebten Unterbrechungen. Wann sind wir schon im HIER und JETZT? Außer SELTEN oder NIE?
Und dabei bleibt es völlig unerheblich, ob die Ausreden berechtigt erscheinen oder nicht, ob sie freiwillig sind oder auf äußere Umstände geschoben werden. Denn letztlich ist es egal, ob mich der Job | der Mann | die Kinder | die Umwelt | der Bundeskanzler | die Gesellschaft | der Freizeitstress daran hindern, einfach nur einen Moment lang ich selbst zu SEIN.
Fakt ist: Ich bin nicht ICH, weil es sicherer erscheint, mich in meinen Ausreden zu verstricken.
Spiritual Bybassing ist eine weitere Taktik, diese Lücke partout füllen zu wollen. Weil mich eben auch die nächste Meditation-Challenge oder der verbissen geübte Handstand vom eigentlichen Problem ablenken können – nämlich dem Unvermögen, eine Pause zuzulassen.
Ja, Pausen sind fies. Lücken können unerträglich sein. Stille? Muss das wirklich sein? Gerade jetzt?
Ja, es muss sein! Denn genau diese Unerträglichkeit des Seins muss man spüren und zulassen können. Dort, wo es unangenehm wird, liegt die Lösung vergraben. Da wird es erst interessant. Und irgendetwas in uns weiß das auch ganz genau.
Wo war meine Lücke in den letzten 8 Wochen? Ich will ehrlich sein: Da war keine. Nicht ansatzweise. Im physischen Stillstand rotieren meine Gedanken nur noch schneller. Das mag ich nicht, also bewege ich mich, wenn alles andere stillsteht.
Selbst in meinen Träumen gibt es keine Lücke. Ich träume zu bunt, zu laut, zu angestrengt. Immer schon. Das dürfte kein gutes Zeichen sein.
Absorb what is useful. Discard what is not. Add what is uniquely your own.
Bruce Lee
Dieses Zitat von Bruce Lee hilft mir ungemein, mich nach und nach vom Unnützen zu befreien. Nur das zu tun, was wirklich hilfreich ist, und nicht nur, um damit ein Loch zu stopfen. Dass ich der vermeintlichen ‚Normalität‘ nicht in den nächsten Store nachrenne, um irgendetwas zu kaufen, ist doch schon mal ein guter Anfang.
Das liebevolle Erkennen, dass ich deshalb keine Pause zulasse, weil ich mich davor fürchte meiner nackten Seele zu begegnen, ist der nächste Schritt in die richtige Richtung.
Ich übe mich, das seltsame Gefühl von Leere und Nichtstun DA sein zu lassen und etwas Bereicherndes statt Abschreckendes darin zu sehen.
Heute nur eine Sekunde lang, und morgen vielleicht schon zwei oder drei…
xo,

PS: Das Titelbild zeigt einen Ausschnitt meines Lieblings-B&B im Alentejo. Ein durch und durch entschleunigter Ort, an dem Eukalyptuswälder an den wohltuenden Purismus anschließen! Mein heißer Tipp für die Zeit NACH Corona! Wie das B&B heißt, steht im TribeNotes-Archiv! Join the Tribe!

3 comments
Ganz einfach: ich freue mich, dabei sein zu dürfen
Wie hat es sich nun bei Dir entwickelt? Das Leben und das Reisen nach dem (c)? Mehr Reisen in dein Inneres – oder bist Du auch noch ohne Blogartikel Spuren unterwegs?
Uns hat es nicht ganz so toll betroffen, im Van/Bus lies sich in der Schweiz doch noch einiges anstellen.
Hallo Heinz! Das Leben hat sich in ganz andere, neue Richtungen entwickelt – und tut das noch. Das Reisen ist aber geblieben! Dieser Blog wird voraussichtlich im Herbst geschlossen. Hier geht’s zu meinem neuen Universum: https://www.indieferneindietiefe.com
Viele Grüße in die schöne Schweiz!