Wie man lernt, in den Bergen Sardiniens eine Pause zu machen und dabei Raum und Zeit zu vergessen.
Ich ärgere mich. Und ich staune. In einem Moment mache ich aus Mücken Elefanten. Und im nächsten spüre ich vollkommene Glückseligkeit. Wie ist das möglich, frage ich mich. Staunend. Und immer noch ärgerlich.
Heute ist der 1. August. Der erste Tag meines Lieblingsmonats! Ich befinde mich auf einer Insel im Mittelmeer. Sardinien. Im Sommer ein begehrtes Plätzchen. Meine Wahl fiel auf das Aldiola Country Resort. Nicht am Meer, sondern mitten in den Bergen. Am Lago Liscia. Nicht, weil ich das Meer plötzlich nicht mehr mag, sondern weil es logisch erschien, der Hochsommerhitze und überfüllten Stränden elegant zu entkommen. Abseits der Massen die Seele baumeln lassen – oder was immer baumeln möchte, vielleicht auch der Geist voller unruhiger Gedanken.
Wir kommen an, nach 40-minütiger Fahrt von Olbia. Länger als gedacht, kurviger als gedacht. Die Hitze in den Bergen so brütend wie am Meer. Wir folgen der Rezeptionistin über verschlungene Wege in unsere Villa. Rote Wände, sardisches Interieur, ein Patio mit viel Privatsphäre, so wie ich es gerne habe. Und ein gigantischer Ausblick über den Lago.
Als wäre man gar nicht in Sardinien, sondern irgendwo anders mit viel Platz, ich weiß nicht, vielleicht in Tasmanien.
Möglicherweise ist dies der schönste Aussichtspunkt des ganzen Resorts. Als wäre es mein ganz privates Refugium. Niemand, der stört, egal, ob ich meine Yogamatte ausrolle oder meinen Laptop aufklappe. Und doch finde ich gleich am ersten Tag genug von dem, was es auszusetzen gibt: Nur fünf Kleiderbügel im Schrank und eine laut surrende Minibar, die es nicht schafft, die wenigen Getränke darin ordentlich zu kühlen. Die Handtücher, die nur teilweise gegen frische ersetzt wurden und das Frühstücksbuffet, das um 9.15 Uhr schon restlos geplündert ist und nicht mehr aufgefüllt wird. Und das alles bei Preisen von fast 200 Euro pro Nacht.
Man könnte Gefahr laufen, sich an solchen Dingen zu verbeißen. Ständig aufzuzählen, was besser sein könnte. Der Service, die Ausstattung, das Essen – und die Temperaturen ruhig ein paar Grade kühler. Denn man wird ja fast verrückt bei dieser Hitze. Zudem muss man sich mit den anderen Gästen um die besten Schattenplätze am Pool raufen. Wer hätte gedacht, dass es in den Bergen Sardiniens zugeht wie im Pauschalurlaub.
Man könnte diese unerträglichen Gedanken voller Yang-Energie aber auch einfach mal beiseite lassen. Den Blick auf das Subtile und das Schöne richten. Die Stimmungen beobachten, die sich während des Tages rund um See auf magische Weise verändern: Morgens, wenn die Natur noch vor dem Einsetzen der Sommerhitze erwacht. Später, wenn die Sonne am höchsten steht, der Tag seine Spitze erreicht und alles still zu stehen scheint. Der friedvolle Nachmittag mit seinem warmen Licht, das sich sanft über Olivenbäume, Rosmarinsträucher und Oleander legt. Und dann schließlich der Abend, meine liebste Tageszeit. Wenn die Hitze langsam erträglicher wird und der Himmel über den See unvorhergesehene Farbspiele präsentiert. Wie in einem Natur-Theater sitze ich dann auf meinem Stuhl und lege das Handy bewusst zur Seite. Wenn der Tag zu Ende geht, scheinen Frösche und Fische wach zu werden. Die Geräusche, die vom See zu hören sind, sind weit und breit die einzigen. Eine Wohltat, an die sich die Ohren erst einmal gewöhnen müssen.
Ist es nicht ein großes Glück, an einem Platz zu sein, an dem nichts passiert, weil das pure YIN regiert?
Und dann verlässt man diesen Ort, um die Umgebung zu erkunden. Und siehe da, man entdeckt noch weitere Plätze von seltener Ruhe. Man fährt auf gut Glück nicht ans Meer, sondern weiter in die Berge. Damit tue ich etwas, was ich sonst nur selten tue. Der Abenteuerlust in die vermeintlich falsche Richtung folgen.
Ankommen in einem seltsam-idyllischen Städtchen. Als wäre es nicht von dieser Welt. Es trägt diesen bezeichnenden Namen ‚Tempio Pausania‘. Kleine Gassen, weitläufige Promenaden und Häuser mit grauen Granitfassaden. Man muss nicht Italienisch sprechen oder je Latein in der Schule gehabt haben, um sich einen Reim auf den Ortsnamen machen zu können.
Tempio Pausania – die Stadt, in dem die Zeit eine Pause macht? Je länger man durch die Straßen geht, desto mehr verblassen Raum und Zeit.
Fast fühlt man sich wie unsichtbar. Als wäre man gar nicht da. Inexistent. An einem Ort wie diesem hat das YANG mit seiner aufgeblasenen Hektik keine Chance. Und so kann man selbst nicht daran festhalten. Alles, was man Greifen kann, ist YIN. Eine Oase der Ruhe und aus jeder Granitfuge blitzt subtile Besonnenheit. Nicht, dass es hier keine Menschen gäbe. Doch auch sie scheinen hier oben in den Bergen unbeeindruckt ihrer Bestimmung nachzugehen, ohne sich ständig den Kopf darüber zu zerbrechen, was diese denn eigentlich sein mag. Es gibt Wichtigeres zu tun.
Und so kehre ich zurück in meine private Oase. Ich sitze auf meinem Stuhl, den Blick über den See gerichtet, der wieder einmal nur mir ganz alleine gehört. Die unüberhörbare Stille, die sich in meinen Ohren breit macht. Und die Dankbarkeit des Seins, die mich keinen Gedanken mehr an Kleiderbügel, Handtücher und Frühstücksbuffets verschwenden lässt…